Welthandel. Geschichte, Gegenwart, Perspektiven

Welthandel. Geschichte, Gegenwart, Perspektiven

Veranstalter
Museum Industriekultur Osnabrück
PLZ
49090
Ort
Osnabrück
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.05.2023 - 15.10.2023
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonathan Voges, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Die allgemeine Öffentlichkeit hat in den vergangenen Jahren ein gänzlich neues Vokabular lernen müssen: Handelsbeschränkungen, Lieferketten, Interdependenz, Konnektivität und so weiter waren zwar Konzepte, die für die Eingeweihten schon vorher in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung bekannt waren. Welche alltagspraktischen Effekte sie tatsächlich haben können, wurde dagegen genau dann breiter wahrgenommen, als Eruptionen auftraten: Ein Containerschiff, das im Frühjahr 2021 den Suezkanal blockierte, hatte plötzlich ganz unmittelbare Folgen auch für die heimische Wirtschaft und den privaten Konsum; unterbrochene Lieferketten im Zuge der Corona-Pandemie machten deutlich, wie sehr nationale Volkswirtschaften auf Zulieferungen aus dem Ausland angewiesen sind; der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 wiederum zeigte, wie Welthandel eben auch als Waffe eingesetzt werden kann. Die strategische Verhinderung oder Gewährung von Weizenlieferungen aus der Ukraine diente und dient Putin dazu, die Getreide- und Düngerpreise in die Höhe zu treiben, Druck auf die Gegenseite aufzubauen und insbesondere den Westen von seiner Unterstützung der Ukraine womöglich abzubringen.

Welthandel ist also – gerade wegen der Probleme, die er derzeit durchmacht, aber zum Beispiel mit Blick auf den Klimawandel auch selbst hervorruft – in aller Munde. Deshalb ist es unbedingt zu begrüßen, dass das Museum für Industriekultur Osnabrück (MIK) diesem Themenkomplex eine Sonderausstellung widmet. So naheliegend das Thema auf der einen Seite zu sein scheint, so sperrig wirkt es auf der anderen, sobald man nach Wegen sucht, das doch eher abstrakte Phänomen visuell an den Mann und die Frau zu bringen. Ausstellungen leben nicht allein von dem, was erzählt wird, sondern vor allem auch davon, wie dies geschieht. Wie spannende und analytisch anspruchsvolle Geschichten über den Welthandel nicht nur die Fachöffentlichkeit, sondern auch das breitere Publikum für sich einnehmen können, beweisen schon seit einiger Zeit unterschiedliche Stoffgeschichten (als Beispiele sei nur auf Zucker und Baumwolle verwiesen).1

Eine Ausstellung muss aber andere Wege gehen, um Komplexität zu reduzieren (ohne simplizistisch zu werden) und Anschaulichkeit herzustellen beziehungsweise zu erhöhen. Dem MIK gelingt dies auf dem doch eher begrenzten Raum, den die Sonderausstellungsfläche bietet, außerordentlich gut. Das liegt an sechs Gründen, die hier schlaglichtartig genannt werden sollen.


Abb. 1: Ein typischer Schiffscontainer als Eingang; links das Ausstellungsplakat mit der Verbindung von zwei Zeitebenen
(Foto: Museum Industriekultur Osnabrück)

Erstens überzeugt die zeitliche Fokussierung der Ausstellungskonzeption. Es geht den Verantwortlichen nicht darum, die Entwicklung des Welthandels von seinen Anfängen bis in die Gegenwart nachzuvollziehen (und im Raum möglicher Zukünfte auch darüber hinaus). Statt eines solchen allumfassenden Ansatzes, der im Rahmen einer Ausstellung am Ende wohl hätte scheitern müssen, geht man für zwei markante Perioden in die Tiefe und lotet jeweils aus, was „Welthandel“ genau in dieser Zeit bedeutete. Das ist zum einen das Jahrhundert zwischen 1650 und 1750, als – so die These der Ausstellung – der Welthandel zum ersten Mal wirklich an Fahrt aufnahm, und dann eben die Gegenwart der 2020er-Jahre. Historiker:innen älterer Epochen mögen einwenden, dass auch in ihren Zeiträumen so etwas wie Welthandel schon existierte; den Expert:innen für die Neuzeit mag das 19. Jahrhundert fehlen – die in diesem Jahrhundert stattgefundene „Verwandlung der Welt“ (Jürgen Osterhammel) war ja in weiten Teilen auch ökonomisch und damit durch den Welthandel getrieben2; Zeithistoriker:innen wiederum könnten die Auseinandersetzung mit den Folgen der großen globalen Wirtschaftskrisen auf den Welthandel (1929, 2008) vermissen. Im Rahmen der Ausstellung und für die Stärkung des Arguments funktioniert die Wahl der Zeiträume aber ausgezeichnet. Ohne dass ein systematischer Vergleich beider Phasen angestrebt würde, fordert die zeitliche Fokussierung dazu heraus, Vergleiche selbst herzustellen. Insbesondere konsumhistorisch weniger geschulte Besucher:innen sollen zum Staunen darüber animiert werden, wie verflochten die Welt ökonomisch auch schon im 17. und 18. Jahrhundert war – nach dem Westfälischen Frieden, dessen Geschichte in Osnabrück besonders präsent ist.


Abb. 2: Ausstellungssegment zum „Wissensaustausch“ in der Frühen Neuzeit
(Foto: Museum Industriekultur Osnabrück)

Damit einhergehend ist es eine zweite kluge Entscheidung der Ausstellungsmacher:innen, nicht chronologisch vorzugehen. Es gibt keinen Parforceritt durch 400 Jahre Handelsgeschichte, sondern thematisch definierte Kapitel: „Weltwaren“, „Handelsorte“, „Waren in Bewegung“, „Logistik“, „Wissen und Handel“, „Regeln und Normen“, „Handelnde“, „Bilanzen“ und „Zukünfte“. In jedem der neun Kapitel, die wegen des begrenzten Raumes zuweilen etwas schwer voneinander abzugrenzen sind, werden Beispiele aus beiden Zeitebenen sehr konkret vorgestellt.

Der dritte wichtige Punkt, der die Ausstellung so gelungen werden lässt: Das „große“ Thema Welthandel wird in den unterschiedlichen Kapiteln jeweils souverän in kleinere, vor allem auch anschauliche Aspekte aufgeteilt. Was einen Ort des Welthandels auszeichnete und auszeichnet, wird dabei ebenso eindrücklich an realen Orten durchexerziert, wie am Beispiel bestimmter Waren deutlich gemacht wird, warum gerade sie paradigmatisch für den Welthandel stehen. Bei Orten und Waren mag diese Konkretisierung noch sehr naheliegen, aber auch für zunächst abstraktere Teilthemen – Wissen und Normen etwa – gelingt es der Ausstellung, mit einigen wenigen Kniffen sehr konkrete Aussagen zu treffen. Für Regeln stehen Gewichte, für Wissen Überlieferungen zur Beschaffenheit und zum Vorkommen begehrter Waren.


Abb. 3: Pflanzliche Warenproben
(Foto: Museum Industriekultur Osnabrück)

Eine vierte Beobachtung: Quer zu den Themenkapiteln laufen „Spuren“ in der Ausstellung mit. Eine „Regionalspur“ macht deutlich, dass auch das niedersächsische und ostwestfälische Hinterland in die Weltwirtschaft eingebunden war und ist – etwa mit Leinen als „Osnabrücks erster Weltware“. Aus dem Stoff wurde unter anderem billige Arbeitskleidung für Sklaven in den Kolonien hergestellt. Der Rezensent kommt nicht aus Osnabrück, nichtsdestotrotz sprach ihn gerade diese Verbindung aus Mikro- und Makroebene besonders an, macht sie doch deutlich, dass Welthandel eben nichts ist, was irgendwoanders stattfindet (und -fand), sondern dass er tatsächlich grundlegend den eigenen Alltag prägt. Die „Perspektivenspur“ hingegen bemüht sich darum, das insgesamt – eingestandenermaßen – eurozentrische Narrativ der Ausstellung über nicht-westliche Perspektiven zu erweitern. Hier wären sicher auch Ansätze denkbar, die die Idee der Provinzialisierung Europas weitergetrieben und ganz andere Orte, Praktiken und Personen in den Vordergrund gestellt hätten. In Osnabrück ist man sich aber zumindest der eigenen Perspektive bewusst und versteht es, reflexiv mit den Begrenzungen umzugehen und sie durch Beiträge internationaler Kooperationspartner:innen zu rekontextualisieren. (Auf die „Kinderspur“ als weiteren Zugang werde ich am Ende noch eingehen.)


Abb. 4: Ein Beispiel für die Korrespondenz von Form und Inhalt der Ausstellungsarchitektur
(Foto: Museum Industriekultur Osnabrück)

Zu loben ist fünftens die Ausstellungsarchitektur, die sich beim Gegenstand selbst bedient hat, nämlich der Logistik. Als Trägermaterial für die Ausstellungstafeln und -objekte wählte man ausrangiertes Material von Transportunternehmen. Beim Betreten des Ausstellungsgebäudes – der Eingang erfolgt selbst über das Symbol des modernen Welthandels, einen Schiffscontainer (Abb. 1) – tritt man so direkt in das Flair eines Logistikunternehmens ein und wird von der Atmosphäre globalen Handels empfangen.

Sechstens schließlich ist die Ausstellung gerade deshalb so ansprechend, weil sie zwar ganz sicher nicht „unpolitisch“ ist, aber sich um ein ausgewogenes Urteil bemüht. Weder wird der Welthandel – sei es in der gegenwärtigen oder in der früher praktizierten Form – als gradliniger Weg zum Weltfrieden präsentiert, noch wird die den Welthandel ermöglichende und forcierende Globalisierung in Bausch und Bogen verdammt. Es geht um differenzierte Einordnungen, weniger um Eindeutigkeiten. Sich selbst Gedanken zu machen und nach Wegen zu suchen, wie der Welthandel nachhaltiger, gerechter und ressourcenschonender gestaltet werden kann, dazu werden explizit auch die Besucher:innen aufgefordert. Was im Themenkapitel „Zukünfte“ präsentiert wird, bleibt – naturgemäß – spekulativ, aber schon die Verwendung des Plurals macht deutlich, dass unterschiedliche Szenarien denkbar sind und dass es auf uns (also die Besucher:innen) ankommt, welche Variante nun die wahrscheinlichste wird. Die Ausstellung ist also in dem Sinne „politisch“, dass sie dazu auffordert, aus dem Gesehenen und Gelesenen zu einem eigenen Urteil und eigenen (Konsum-)Entscheidungen zu gelangen.


Abb. 5: Ausstellungsansicht „Zukunftsraum“
(Foto: Museum Industriekultur Osnabrück)

So bietet das MIK Interessierten eine Ausstellung, die klug Schwerpunkte setzt, Bekanntes und Überraschendes verbindet und sich stets darum bemüht, an die Lebenswelt des Publikums anzuknüpfen, um zu zeigen, wie eng auch die eigene Existenzweise mit den Strukturen des Welthandels verbunden ist. Das mag der aufgeklärten Zeitgenossin und dem/der Zeitung lesenden Staatsbürger:in kognitiv alles bekannt sein – diese Zusammenhänge aber nicht nur zu erklären, sondern auch zu zeigen und sinnlich erfahrbar zu machen, ist eine große Herausforderung, die die Präsentation überzeugend meistert.

Postskriptum: Zum Ende sei noch betont, dass der Rezensent die Ausstellung nicht allein besuchte. Um dem zusätzlichen Nutzen der schon erwähnten „Kinderspur“ nachzuspüren, begleitete ihn seine Tochter, gerade sechs Jahre alt geworden. In den letzten großen Ferien vor Schulbeginn erklärte sie sich bereit, mir als Expertin zur Seite zu stehen. Die Voraussetzungen waren zwar schlecht, es regnete am Besuchstag in Strömen, die Nacht war kurz, die Laune bei der Ankunft am Museum somit nicht die beste. Gerade deshalb war das Mädchen aber vielleicht die optimale Kandidatin, um die Leistungsfähigkeit der „Kinderspur“ zu testen. Tatsächlich gelang es den einzelnen Mitmachstationen, den in der Ausstellung für die „Großen“ präsentierten Stoff auch kindgerecht aufzubereiten. Kleine Ratespiele (etwa mit der Frage nach der Herkunft der Kleidung unterschiedlicher sozialer Schichten in der Frühen Neuzeit), Aufgaben (die Suche nach einer möglichst kurzen Handelsroute) und die explizite Aufforderung, anzufassen und auszuprobieren, vermochten es, meine Tochter im Rahmen des Möglichen bei der Stange zu halten und für die präsentierten Themen zu interessieren. So hat uns der Ausflug nach Osnabrück doch noch Freude gemacht.

Anmerkungen:
1 Sidney Mintz, Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History, New York 1985 (dt.: Die süße Macht. Kulturgeschichte des Zuckers. Aus dem Amerikanischen von Hanne Herkommer, Frankfurt am Main 1997); Ulbe Bosmar, The World of Sugar. How the Sweet Stuff Transformed Our Politics, Health, and Environment over 2,000 Years, Cambridge, Mass. 2023; Sven Beckert, Empire of Cotton. A Global History, New York 2015 (dt.: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Annabel Zettel und Martin Richter, München 2015). Generell zur Stoffgeschichte siehe demnächst Sebastian Haumann u.a. (Hrsg.), Perspektiven auf Stoffgeschichte. Materialität, Praktiken, Wissen, Bielefeld 2023 (angekündigt für November).
2 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 6., überarb. Aufl. 2020.